CineGraph - Lexikon zum deutschsprachigen Film.


Viktor Trivas - Filmarchitekt, Regisseur, Autor

Biografie

siehe auch Literatur, Film-Materialien, Heft 9

Viktor Aleksandrovich Trivas wird am 9. Juli 1896 in St. Petersburg geboren. Sein Vater Aleksandr Trivas ist u.a. Bildhauer, Pianist, Uhrmacher, einer der ersten russischen Vertreter von RCA Victor und Antiquitätenhändler. Trivas studiert Architektur an der Akademie der Bildenden Künste in St. Petersburg; Erster Weltkrieg und Revolution verhindern einen Abschluß. Bei der Armee ist er mit der zeichnerischen Dokumentation von Baudenkmälern beauftragt.

Nach Kriegsende zieht er nach Moskau, wo er am Theater arbeitet. In dem Standardwerk »Le Théâtre juif soviétique pendant les Années vingt« von Béatrice Picon-Vallin wird er aber nicht erwähnt. In einem Gespräch mit Serge Berline (Paris Midi, 6.2.1934) teilt Trivas mit, er habe eine »avantgardistische Truppe namens J.A.S.« gegründet und am Komisarzevskij-Theater u.a. Komödien von Molière und Dramen von Shakespeare aufgeführt. Einer Notiz im Berliner Börsen-Courier (2.2.1929) zufolge soll er am »Kleinen Staatlichen Theater in Moskau« gewesen sein. Überliefert ist, daß er als Ausstatter für das Jüdische Theater von Aleksis Granovskij (später: Alexis Granowsky) arbeitet. Entgegen den Nachrufen in The New York Times (13.4.1970) und Variety (15.4. 1970) hat Trivas jedoch nie mit Sergej Eisenstein zusammengearbeitet.

1920 wird Victor Trivas 31 Tage lang als mutmaßlicher Staatsfeind eingekerkert - seine Erlebnisse verarbeitet er 1964 in dem zusammen mit Charles O'Neal verfaßten Buch »The 32nd Day«. Als sich die politische Lage weiter verschlechtert und viele seiner Theaterfreunde verfolgt werden, verläßt Trivas um 1925 zusammen mit seiner Frau Moussia (später Maria, geb. Schneerson; sie hatten 1923 in Moskau geheiratet) die Sowjetunion.

Als Touristen kommen sie nach Berlin. Trivas' erste Filmarbeit sind die Bauten für das 1925 von Lorand von Kabdebo inszenierte Lustspiel DIE DAME AUS BERLIN; Alfred Krautz zufolge überrascht der Film »durch ein sehr dichtes "russisches" Interieur mit viel atmosphärischem Flair«. (Beiträge zur Film- und Fernsehwissenschaft, Nr. 36, 1989). 1927 verantwortet Trivas zusammen mit Otto Hunte die Ausstattung für DIE LIEBE DER JEANNE NEY von G. W. Pabst. Es bleibt die einzige Zusammenarbeit von Trivas mit Pabst; er hat nie als dessen Assistent gearbeitet, wie es die zeitgenössische französische Filmpresse tradiert. Am 15.1.1927 meldet Der Film die Verpflichtung von Victor Trivas als künstlerischen Mitarbeiter für einen aber nicht zustande gekommenen Film von Curt Oertel für die Hirschel-Sofar.

Als Szenograf überwiegend von »Mittelfilmen« hat Trivas kaum Gelegenheit, eine eigene markante Handschrift zu entwickeln. Zusammen mit W. Starke stattet er 1928 das tschechisch-deutsch-schweizerische Lustspiel EVAS TÖCHTER von Karl Lamac aus. Auch Trivas nächster Film, die deutsch-schwedische Produktion MAJESTÄT SCHNEIDET BUBIKÖPFE von Ragnar Hylton-Cavallius ist ein Lustspiel mit Operetten-Einschlag. In dem von Adolf Trotz und Theodor Sparkuhl inszenierten Film DER STAATSANWALT KLAGT AN, einem Plädoyer gegen die Todesstrafe, notiert Hans Feld »sparsam angedeutete Bauten« (Film-Kurier, 10.8.1928), Conrad Frigo empfindet sie als »nackt und kalt« (Reichsfilmblatt, 11.8.1928), während Fedor Kaul festhält: »Den Bauten Victor Trivas' kann man mit Ausnahme des Amtszimmers des Herrn Staatsanwalts guten Geschmack nicht absprechen. Szenisch am besten gelungen sind einige Straßenbilder mit realistischem Einschlag.« (Der Film, 11.8.1928).

In Berlin ist Trivas auch als Ausstellungsarchitekt - »seit Jahren hat er die Ausstattungen aller in Deutschland stattfindenden Ausstellungen des neuen Rußlands unter sich« (Film-Kurier, 10.2.1931) - und Bühnenbildner tätig.

Bei »Bourgeois bleibt Bourgeois« nach Molière in der Inszenierung von Alexis Granowsky am Lessingtheater (Premiere: 12.2.1929), von der Kritik durchweg als mißlungen beurteilt, werden jedoch Trivas Bühnenbilder und Kostüme hervorgehoben. So lobt Emil Faktor: »Der witzigste Mitarbeiter an der Revueausgabe Molières, wie sie unter schweißtriefenden Bemühungen und peinlich ergebnislos zur Schau gestellt wurde, war der Bühnenmaler Victor Trivas. Er konstruierte für den Mittelpunkt der Bühne ein drehbares, hohes Rechteck, bald verhangen und Palaispforte, bald Innenraum oder Hintergrund, der sich zwanglos eingliedert. Dekorationsstücke schweben von oben herunter, die Bühne wandelt mühelos ihre Schauplätze, es entsteht durch Kostüme, Gruppierungen und bewegliche Andeutungskulissen eine sinnvolle Mischung von Barock und Freiluftszenerie. Das Warenhaus Jorden, in welchem der Molièresche Parvenü Jourdain seine Existenz fortsetzt, setzt sich aus einer drolligen Kombination von Treppen zusammen. Über dem Ehebett Jordains bewegt eine Silberplastik (Leda mit dem Schwan) zu seinen Träumen die Flügel. Der Maler hatte Einfälle.« (Berliner Börsen-Courier, 21.2.1929). Und C. Hooper Trask schreibt: »Victor Trivas (...) deserves a certain amount of sympathy, as his scenery had an interesting and personal note.« (The New York Times, 24.3. 1929).

1930 entsteht mit der deutsch-tschechischen Co-Produktion AUFRUHR DES BLUTES Trivas' erste Regiearbeit. Drei aus der Großstadt in eine ländliche Idylle geflüchtete Freunde verlieben sich ein junges Zirkusmädchen. Was entspannt und harmonisch beginnt, endet in Eifersucht und Kampf; die freie Liebe im Garten Eden bleibt Vision. »Ein sympathisch gemachter Film, der in seiner frischen Form kaum den melodramatischen Titel benötigt hätte. Menschen am Sonntag, auf ihre Art gesehen; zum Alltagsgebrauch auf einen sauberen Mittelfilm umgebogen.« meint Lotte H. Eisner (Film-Kurier, 22.3.1930). Angestrebt wird Natürlichkeit sowohl in der Szene als auch im Spiel der Akteure. Dieser fast ausschließlich im Freien spielende Debütfilm schwankt unentschieden zwischen Essay und Lustspiel. Im Gegensatz zu MENSCHEN AM SONNTAG (Robert Siodmak, 1929/30) sucht Trivas insbesondere über Landschaftsaufnahmen, die seine russische Herkunft ebenso verraten wie dynamische Bildmontagen großstädtischer Sensationen, eine grundsätzliche Aussage: daß die Vision einer unbeschwerten freien Liebe im Garten Eden Utopie bleibt.

Bei den Avantgardisten unter den in Berlin versammelten Filmrussen ist Victor Trivas eine wichtige Stimme. Zusammen mit dem Regisseur Fedor Ozep und dem Drehbuchautor Natan Abramowitsch Sarchi bezieht er emphatisch Stellung zum Thema Tonfilm: »Wir protestieren gegen die große Gefahr, die in diesem Zusammenhange den künstlerischen Film bedroht, die Gefahr des Naturalismus, der Theatralik, der Attraktion. (...) Es lebe der Film des künstlerischen Realismus, es lebe der poetische Film! Und somit für die Auswertung des Tons und der Sprache als Montagematerial, als Material für poetische Gestaltung und Offenbarung der visionellen Welt im System der dichterischen Tonformen und gegen die einfache kahle, mechanische Wiedergabe der Wirklichkeit.« (Film-Kurier, 2.1.1930).

Bei Fedor Ozeps DER MÖRDER DIMITRI KARAMASOFF arbeitet Trivas am Buch wie auch an der Ausstattung mit. Der Film-Kurier hebt besonders Trivas Anteil hervor: »Friedl Behn-Grund stand an der Kamera, aber die Lichtzeichnungen hängen, von des Malers Trivas Hand gezeichnet, an den Wänden seines Zimmers, selbst die Stallaterne ist eingezeichnet auf dem Bild, das die geöffnete Kellertür zeigt, aus der heraus die Schreie des Epileptikers dringen. Zeichnungen seltsamer Beleuchtung, mit den Spitzlichtern der Träume eines Dostojewski.« (10.2.1931). Ozeps Regie-Assistent George Freedland (= Georges Friedland) bestätigt dies in einem 1988 geführten Gespräch: »Trivas war bei diesem Film mit all seinen Fähigkeiten dabei: er hat am Drehbuch mitgearbeitet, er wirkte an den Bauten mit und beriet Ozep in allen anstehenden Fragen.« Freedland charakterisierte Trivas daher als ein »Allround-Genie«.

Mit seiner zweiten Regiearbeit, dem Antikriegsfilm NIEMANDSLAND (1931), wird Trivas schlagartig berühmt: »Gestern noch war er unbekannt; heute präsentiert er sich als der Schöpfer von NIEMANDSLAND, einem der bemerkenswertesten Filme der letzten Jahre.« (Julien J. London, Ciné-Comoedia, 12.1.1933). NIEMANDSLAND ist ein pazifistischer Film in der Tradition von Leonhard Franks »Der Mensch ist gut« - Frank und Trivas schrieben gemeinsam das Exposé. Während das Berliner Tageblatt am 3.5.1931 meldet, das Manuskript sei vom Filmfriedenspreis-Komitee des Völkerbundes in die engere Wahl gezogen wurde, berichtet Der Film am 12.12.1931, es sei tatsächlich mit dem Friedenspreis des Völkerbundes ausgezeichnet worden. Trivas wollte mit NIEMANDSLAND »nicht die Greuel des Krieges, sondern seine grausame Absurdität« aufdecken. Fünf Feinde, ein Deutscher, ein Franzose, ein Engländer, ein Schwarzer und ein Jude (von »irgendwo in der Welt«) treffen in einem Schützengraben, in der Todeszone zwischen den Fronten, aufeinander. Zuletzt verlassen die Soldaten ihren Unterstand und räumen als letztes Hindernis den Stacheldraht aus dem Weg - hin »zum Frieden, zu neuem Leben«, wie es im Illustrierten Film-Kurier zu NIEMANDSLAND heißt.

Trivas (links) mit Hugh Stephens Douglas, NIEMANDSLAND, 1931

Im Gegensatz zu anderen Antikriegsfilmen geht es Victor Trivas nicht um eine möglichst realistische Wiedergabe der Kriegsschrecken. Durch symbolische Szenen und die Art der Montage vertritt er die These, daß die Menschen sich trotz Kriegshetze über alle Grenzen und Schranken hinweg verstehen können, ja müssen. Trivas erzählt keine romanhafte Geschichte, sondern verhilft mit filmischen Bildern einer Idee zum Ausdruck. Trotzdem ist kein bebildertes Traktat entstanden, sondern ein großer humanistischer Film, ein engagiertes Plädoyer für die Idee der Völkerverständigung. In NIEMANDSLAND sprechen die Darsteller ihre jeweilige Landessprache und verstehen sich trotzdem. Die Dialoge sind auf ein Minimum reduziert, »geschlossene, konstruktive Musikstücke« - wie Hanns Eisler (Berliner Börsen-Courier, 12.12.1931) seine Filmmusik charakterisierte - tragen wesentliche Teile der Handlung. Nach einem großangelegten Montageteil, der den friedlichen Alltag der fünf Hauptdarsteller, dann den Kriegsausbruch in den verschiedenen Ländern parallelisiert, greift der zweite Teil, der in einem bühnenartig inszenierten Unterstand im Niemandsland spielt, auf die Mittel des Kammerspiels zurück. Dieser Stilwechsel, der bereits die zeitgenössische Kritik befremdet - »der eine Teil scheint von Pabst, der andere von Granowsky zu stammen«, meint Herbert Ihering (Berliner Börsen-Courier, 12.12.1931) - ist aber ein wichtiges Merkmal von Trivas' Handschrift.

Dieses Nebeneinander verschiedener Expressionen findet sich in Ozeps DER MÖRDER DIMITRI KARAMASOFF wie auch in Granowskys experimentellem Filmessay DAS LIED VOM LEBEN, bei dem Victor Trivas 1930/31 als Co-Autor mitwirkt. In diesem von der Zensur stark zusammengeschnittenen Film werden in symbolischen Szenen Freiheit und Solidarität als allgemeingültige Werte des Lebens beschworen. Im Jahr darauf verfaßt Trivas zusammen mit Fedor Ozep und Hans H. Zerlett die Drehbuchvorlage für die von Ozep in Paris gedrehte groteske Großstadtkomödie MIRAGES DE PARIS (dt. Version: GROSSSTADTNACHT): Ein junges Mädchen rückt aus einem Pensionat aus, um in Paris Schauspielerin zu werden, was ihr schließlich, nach einer Reihe von unfreiwilligen Abenteuern, auch gelingt. Nur selten hat Trivas, wie hier, Gelegenheit, seine Begabung fürs Groteske und Komische einzubringen.

Im Sommer 1932 zieht Trivas nach Paris um; ein im Film-Kurier vom 17.12.1931 angekündigter neuer Film über ein »sehr aktuelles Wirtschaftsproblem« wird nicht mehr realisiert. In einem seiner ersten Interviews in Paris äußert er sich pragmatisch über das Verhältnis künstlerischer versus industrieller Film. »Ich kann mir kein unabhängiges Kino vorstellen. Film ist ein industrielles Produkt, das seinen Weg zu den Konsumenten finden muß. Für sie werden die Filme gemacht - sie müssen daher vor allem der Masse zugänglich sein. Falls nicht, so wurde das Ziel sowohl vom gesellschaftlichen als auch vom kommerziellen Gesichtspunkt aus verfehlt. Der Regisseur muß sich bemühen, die wirkliche Verbindung zwischen sich und dem Publikum zu finden.« (Ciné-Comoedia, 12.1.1933).

In Paris entsteht 1933 seine dritte Regiearbeit DANS LES RUES mit den ebenfalls emigrierten Wladimir Sokoloff, Andrej Andrejew, Rudi Maté und Hanns Eisler. In der Wirtschaftskrise gerät ein junger pariser Arbeiter in den Kreis einer Bande von Herumtreibern und läßt sich zu einem Überfall überreden. Die Gesellschaft erkennt sich als mitschuldig und er wird freigesprochen; durch sinnvolle Arbeit wird die Sinnkrise der jungen Generation überwunden. Trivas zeichnet Paris mit dem Blick eines Russen, der durch die deutsche Filmschule der Neuen Sachlichkeit gegangen ist.

Freddy Buache, der 1977 erstmals wieder auf diesen lange vergessenen Film aufmerksam macht, beschreibt in Les Cahiers de la Cinémathèque DANS LES RUES als den »deutschesten aller französischen Filme« und stellt seine Raum- und Lichtbehandlung ins Vorfeld des poetischen Realismus von Marcel Carné. Barthélemy Amengual folgt dieser Einschätzung und analysiert DANS LES RUES als den »beunruhigendsten Film der deutschen Emigration.« (CinémAction, Juli 1990). Dominique Païni charakterisiert ihn 1992 in Conférences du Collège d'Histoire de l'Art Cinématographique als »einen der wichtigsten Filme des französischen Kinos zu Beginn der 30er Jahre.«

Obwohl DANS LES RUES einen gewissen Erfolg hat, erhält Trivas weder in Frankreich noch später in den USA die Gelegenheit, einen weiteren Film zu drehen. Das angekündigte Vorhaben, Victor Hugos Roman »Quatre-vingt-treize« für Romain Pinès zu verfilmen (Ciné-Comoedia, 25.6.1933), kommt nicht zustande. Im Théâtre Montparnasse wird seine zusammen mit George Shdanoff nach Dostoevskij ausgearbeitete Bühnenfassung von »Crime et Châtiment« aufgeführt; 1935 startet das Stück auch am Biltmore Theater in New York.

1935 wird Trivas zusammen mit Jacques Deval, Jean Tarride und Germain Fried als Co-Regisseur bei TOVARITCH geführt - einem Film über russische Flüchtlinge in Paris, die den ihnen vom Zar anvertrauten Schatz schließlich aus Patriotismus dem Volkskommissar übergeben. Mitte 1937 zerschlägt sich der Plan, die Kriminalkomödie »Le diamand bleu« (Drehbuch und Dialoge: Jean Cocteau und Henry Jeanson) »nach dem neuen erfolgreichen amerikanischen Muster« (Pariser Tageszeitung, 11.6.1937), zu verfilmen. Das Drehbuch »Envoyé spécial« über das Schicksal von vier Korrespondenten im chinesisch-japanischen Krieg (Pariser Tageszeitung, 7.1.1938), sowie ein Mitte 1939 angekündigtes Projekt »La dernière nuit« für Romain Pinès - beide gemeinsam mit Leo Lania - werden ebenfalls nicht realisiert.

Zusammen mit Leo Mittler entsteht 1939 das Buch zu LES ÔTAGES von Raymond Bernard für den emigrierten Filmproduzenten Seymour Nebenzahl. Trivas greift erneut ein Motiv aus dem 1. Weltkrieg auf: Um ihr Dorf zu retten, begeben sich fünf französische Honoratioren in deutsche Geiselhaft; angesichts der großen Gefahr für die Allgemeinheit überwinden sie ihre kleinen Streitigkeiten. Am Vorabend des 2. Weltkriegs liest sich diese Geschichte als Aufruf zur Einheit und Geschlossenheit gegenüber der neuen Kriegsgefahr.

Am 1.11.1939 verfaßt Victor Trivas ein »To whom it may concern«, in dem er George Shdanoff einen credit als seinem Mitarbeiter an NIEMANDSLAND zuerkennt. Trivas erklärt sich auch damit einverstanden, daß Shdanoff - »in view of European conditions« - Änderungen und Schnitte an dem Film vornehmen darf.

Nach LES ÔTAGES verläßt Trivas mit seiner Familie Paris, um über Pau und Toulouse nach Marseille zu gelangen, wo er sieben Monate damit verbringt, die für die Ausreise in die USA notwendigen Papiere zu erlangen. Die Tochter Irene berichtet von einem Zwischenfall: »One day, in Marseille, my father was picked up by the French police. They were acting on behalf of the Gestapo, even though that part of France was technically unoccupied. He was picked up because he still carried a Soviet passport. He was brought to a building outside the city, along with hundreds of other men. A French police officer sat at a desk, a pile of passports stacked in front of him. One name after another was called out, and one after another, men were hurried out of one of two doors. Eventually, my father's name was called. The officer looked at him and said: "Monsieur Trivas? The great film director? You have no business here, Monsieur. You are a free man. Please accept my apologies." And my father walked out the other door. We can presume that the other men were carted off to concentration camps. I cannot emphasise enough that this was instance of absurd and absolute luck. My father was by no means a well known film maker - like René Clair or Jean Renoir, for instance - only a true film fan would have known his name.« Über Lissabon gelangen sie im Mai 1941 mit der »Ciudad de Sevilla« nach New York.

In den USA gelingt es Trivas nicht, sich als Regisseur oder Szenograf zu etablieren, er kann sich allerdings als Autor einen gewissen Namen als Spezialist für »Russisches« verschaffen. Wegen seiner schlechten Englisch-Kenntnisse arbeitet er u.a. mit Guy Endore, Sam Ornitz und Charles O'Neal zusammen. 1944 schreibt er zusammen mit Maurice Clark das Buch zu Fedor Ozeps THREE RUSSIAN GIRLS, ein Remake des sowjetischen Films FRONTOV'E PODRUGI (R: Viktor Eisimont, 1942). Im gleichen Jahr erstellt Trivas zusammen mit Leo Mittler und Guy Endore die Vorlage für SONG OF RUSSIA von Gregory Ratoff. Beide Filme sollen dazu beitragen, die pro-sowjetischen Gefühle des amerikanischen Kinopublikums zu stärken. Wegen seiner Mitarbeit an SONG OF RUSSIA wird Trivas während der McCarthy-Zeit als Kommunist verdächtigt.

Auch kleinere Theaterarbeiten sind überliefert. Im Rahmen des Max-Reinhardt-Workshops of Stage, Screen and Radio in Hollywood besorgt Trivas die Bühnenausstattung für das vor dem 18.4.1942 aufgeführte Stück »Two on an Island« in der Regie von Helene Thimig. Das »Beachwood Studio« führt ihn Ende 1942 als Ehrenmitglied, wie aus einem Programmzettel in der Sammlung Paul Kohner im Archiv der Stiftung Deutsche Kinemathek (file Allan Kanward) hervorgeht.

Trivas erfolgreichste Arbeit in den USA ist das Buch für Orson Welles' THE STRANGER (1946), das ihm eine Oscar-Nominierung einbringt: Ein hochrangiger Naziverbrecher hat sich in der Maske des biederen Bürgers in einer amerikanischen Kleinstadt niedergelassen, schließlich aber siegt die Gerechtigkeit und seine wahre Identität wird aufgedeckt.

Um 1954/55 kehrt Trivas, der 1947 die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hat, für vier bis fünf Jahre in die Bundesrepublik zurück, wo er als Co-Autor an kleineren Filmen mitarbeitet. 1959 realisiert er in München seine vierte und letzte Regiearbeit, den heftig angegriffene erste bundesdeutsche Gruselfilm DIE NACKTE UND DER SATAN mit Horst Frank, Michel Simon und Karin Kernke.

Als letzte Arbeit entsteht kurz vor seinem Tod »the art work for a series of film strips on the human environment for United Press International« (The New York Times, 13.4.1970).

Victor Trivas stirbt am 12. April 1970 in New York an den Folgen eines Herzanfalls.

Die Filmgeschichte reduzierte bisher Victor Trivas Bedeutung auf NIEMANDSLAND, in der Tat sein einziger internationaler Filmerfolg. In den letzten Jahren wird aber auch dem 1933 in Paris entstandenen Film DANS LES RUES als wichtiger Beitrag zur französischen Filmgeschichte eine größere Aufmerksamkeit zuteil.

Alles in allem konnte sich Trivas aber weder als Regisseur, noch als Szenograf oder Autor etablieren - ob dies seinem Schicksal als Emigranten oder seiner Mehrfachbegabung geschuldet ist oder aber einer Unfähigkeit, sich in der besonders harten Filmbranche durchzusetzen, kann hier nicht beurteilt werden. Immerhin hatte Trivas Ende der 20er Jahre mit seinen Bauten für »Mittelfilme« sowie in den 50er Jahren mit seinen Drehbüchern in den USA und in der Bundesrepublik seine Anpassungsfähigkeit an die Bedingungen der Filmindustrie unter Beweis gestellt.

Vorbehaltlich einer genaueren Analyse seiner Bücher und Entwürfe der 40er Jahre liegt Trivas wichtigste Zeit in den Jahren 1930-33, der Endphase der Weimarer Republik, in denen er zwei Filme in eigener Verantwortung drehen konnte (AUFRUHR DES BLUTES, NIEMANDSLAND) und bei zwei weiteren filmgeschichtlich bedeutenden Filmen (DER MÖRDER DIMITRI KARAMASOFF, DAS LIED VOM LEBEN) maßgeblich mitwirkte. Wenn auch bereits im erneuten Exil, so doch in einer wichtigen personellen Kontinuität (Kamera: Rudi Maté, Bauten: Andrej Andrejew, Darsteller: Wladimir Sokoloff, Musik: Hanns Eisler) entstand 1933 in Paris DANS LES RUES.

In diesem kurzen Zeitraum von drei bis vier Jahren gelingt es Trivas, die Formenprache des russischen Films, Elemente des deutschen Kammerspielfilms sowie der Neuen Sachlichkeit mit avantgardistischen Bild- und Tonexperimenten zu einer eigenen Handschrift zu kombinieren. Symbolische Montagen und Bildfindungen treten in einen befremdenden Kontrast mit sachlichen Einstellungen und gradlinigem Erzählduktus. Seine räumlichen Konstruktionen (die Natur in AUFRUHR DES BLUTES, der Unterstand im NIEMANDSLAND, der Schuppen des Trödlers in DANS LES RUES) wirken wie »Niemandsländer«.

Das Bemerkenswerteste an Trivas Filmen sind die befremdlichen Gegensätze, die nicht aufgehenden widersprüchlichen Stile, die den Eindruck einer Unausgewogenheit der Gesamtkonzeption erwecken, die aber nichts anderes sind als Reflex seiner Situation als exilierter Künstler zwischen den Kulturen. Seine Filme sind aber alles andere als eklektisch. Es gelingt Trivas vielmehr, die verschiedenen Einflüsse zu einer neuen, allerdings mitunter recht befremdlichen Einheit zu verschmelzen und eine neue Balance zu finden. Als »unmögliches Gleichgewicht« beschrieb sie der französische Kritiker Barthélemy Amengual in CinémAction vom Juli 1990. Die Bedingungen des Exils sind in Trivas Arbeiten wie bei kaum einem anderen Filmschaffenden jener Jahre präsent - unausgesprochen, aber allgegenwärtig, das Echo einer für unser Jahrhundert leider typischen künstlerischen Existenz.

Jeanpaul Goergen

Diese biografische Skizze beruht teilweise auf Auskünften, die mir Irene Trivas, die Tochter des Regisseurs, freundlicherweise erteilte.

Literatur