CinErotikon. Materialien zum 12. Internationalen Filmhistorischen Kongreß, Hamburg, 4. - 7. November 1999.

Zum Problem des Sittenfilms

Heinz Michaelis

in: Film-Kurier, Nr. 196, 21.8.1925


Die Literatur der Gegenwart ist von der Milieutheorie, in deren Zeichen der Naturalismus stand, abgekommen. Nicht mehr Zola, der wohl als erster die Milieulehre eines Hippolyte Taine künstlerisch verwirklichte, sondern Balzac und Dostojewski, die großen Seelendeuter, sind die Götter der jungen Generation. Die Milieuvergötzung der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts ist heute einer Anschauung gewichen, die die Bedeutung der Umwelt für die Entwicklung des Menschen negiert. Während die Naturalisten den Menschen einfach als Produkt seiner Umgebung ansehen, steht man heute unter dem Einfluß gewisser Strömungen in der modernen Philosophie auf dem Standpunkt, daß die Psyche autonom ihren eigenen Gesetzen folgt und von den Einwirkungen der Umwelt unberührt bleibt.

Wir erleben nun heute, daß der Milieufilm, wenn auch aus ganz anderen, als aus künstlerischen Gründen eine Wiederauferstehung erlebt. Immerhin ist der Milieu- oder Sittenfilm, wie man ihn heute nennt, ein Mittel, das Milieu wieder in die ihm gebührenden Rechte einzusetzen, aufzuzeigen, wie weit es den Menschen zu seinem Geschöpf macht.

Aufnahmen zu DIRNENTRAGÖDIE (Bruno Rahn, 1927)

Die Negation der schicksalbestimmenden Macht der Umwelt, wie sie heute geistige Mode ist, führt dazu, dem Menschen unserer Zeit den Blick für die Realität zu verschleiern. Man spricht heute, im Banne einer östlich orientierten Weltanschauung viel von der Notwendigkeit, zur Überwindung der Realität zu gelangen, d.h. den Menschen dazu zu erziehen, den Sinn seines Seins zu erkennen und danach zu handeln; hierzu ist es aber notwendig, erst diese Realität selbst einmal kennen zu lernen.
Auf dem Wege zu diesem Ziel kann der richtig verstandene Milieufilm ein Führer sein. Der Sittenfilm in seiner bisherigen Gestalt war meistens eine mondäne Angelegenheit, in der die Fabel nur den Anstoß zu allerlei mehr oder weniger virtuos inszenierten Gesellschaftsszenen bot. Ihr Fehler bestand darin, daß die Handlung nicht aus der Umwelt emporwuchs. Fabel und Milieu gingen sozusagen isoliert nebeneinander her. Meist wurde eine Handlung, die der Gefühlssphäre und dem Stoffbereich des vornaturalistischen Theaters entstammte, in ein modernes Milieu gestellt. Dies hatte natürlicherweise zur Folge, daß die Antiquiertheit des Stoffes doppelt stark in die Augen fiel. Die Inkongruenz zwischen Handlung und Milieu machten diese Art Film zu einer formal unbefriedigenden Erscheinung.

Die Schöpfer eines derartigen Films müssen sich zunächst einmal über das Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt klar sein. Der Mensch, ob er nun in einer bestimmten Umgebung heranwächst oder schon im reifen Alter in eine neues Milieu versetzt wird, befindet sich zunächst im Zustande der Passivität. Die ungewohnten Eindrücke bestürmen ihn, so daß er nicht imstande ist, ihnen Widerstand entgegenzusetzen, sondern er wird von ihnen nahezu restlos imprägniert. Dann aber regt sich der seelische Selbsterhaltungstrieb des Individuums. Das Ich setzt sich dagegen zur Wehr, vom Milieu überwältigt zu werden. Und jetzt setzt der Kampf des Individuums gegen die Umwelt ein, die entweder das Unterliegen der Einzelpersönlichkeit oder die restlose Umformung der Umgebung durch das Individuum zur Folge haben kann. Hiermit sind jedoch nur die beiden extremen Fälle bezeichnet. Meistens gestaltet sich die Situation so, daß Mensch und Umwelt sich gegenseitig durchdringen.
Diesen Prozeß künstlerisch zu objektivieren, ist die Aufgabe des Sittenfilms, sofern er mehr als bloßes Oberflächenspiel sein will. Das Milieu soll nicht Kulisse für irgendeine gleichgültige Handlung sein, sondern der Konflikt des Werkes soll aus dem Milieu erwachsen. Freilich darf der Mensch nicht als Vasall des Milieus gezeigt werden. Der Fetischismus des Milieus, der im naturalistischen Zeitalter in Blüte stand, ist geeignet, einer dumpfen, fatalistischen Weltauffassung die Wege zu ebenen und die Freude an der Individualität zu zerstören. Der Sittenfilm muß zunächst einmal Sittenschilderer sein, der ein Bild, keine Verfälschung der Wirklichkeit bietet. Keine Pikanterie, um der Pikanterie willen (bekanntlich hat diese leidige Manier in letzter Zeit einen berechtigten Vorstoß der in der Industrie maßgebenden Verbände hervorgerufen), aber rücksichtslose Darstellung der Welt, wie sie ist, muß von einem Film dieser Art verlangt werden, wenn er menschliches Dokument sein will. Darüber hinaus aber soll er, sofern er eben mehr als bloße Massenunterhaltung sein will, nicht auf den Ehrgeiz des vollblütigen Roman- und Bühnenschriftstellers verzichten: nämlich auf die Gestaltung realen Lebens einzuwirken. Darum soll er das Bild des Menschen zeigen, der stärker ist als seine Umwelt, der sich von herniederziehenden Einflüssen des Milieus befreit.

Denn Roman, Theater, Film sind nicht allein ein Abdruck und Symptom der Zeit, sondern wirken auch auf die Zeit zurück. Das aber legt dem Künstler jeder Art eine ungeheuere Verantwortung auf, der er ständig eingedenk sein muß, wenn er ein Instrument der Kulturentwicklung sein will; worin letzen Endes seine Sendung liegt.


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