CinErotikon. Materialien zum 12. Internationalen Filmhistorischen Kongreß, Hamburg, 4. - 7. November 1999.

»Aufklärungsfilms«

Offener Brief an Herrn Professor Kuckhoff, MdR

Rudolf Kurtz (Leiter der literarischen Abteilung der Proj. A.-G. »Union«)

in: Lichtbild-Bühne, Nr. 23, 8.6.1918


Sehr geehrter Herr Professor!

In der »Kölnischen Volkszeitung« las ich einen Aufsatz aus Ihrer Feder über »Aufklärungsfilms«, dessen Inhalt aus dem Bezirk der deutschen Filmindustrie Widerspruch finden muß. Sie führen, mit einer sehr verallgemeinernden Gebärde, den Verlag von Aufklärungsfilms ausschließlich auf die unbezähmbare Profitgier der Filmfabrikanten zurück und lehnen jede andere Meinung mit der überlegenen Bemerkung ab: »Wer lacht da?« Tenor und Tendenz Ihres Aufsatzes lassen die gleiche Erregung überall spüren, die, schließlich über die Köpfe des mündigen Volkes hinweg, nach Verboten durch »die kräftigeren Bestimmungen der Generalkommandos« ruft!

Ich hatte in der Ausschußsitzung die Ehre, von der Tribüne herab Zeuge Ihrer Ausführungen zum Kinogesetz zu sein. Bereits an dieser Stelle gaben Sie namens einer einflußreichen politischen Partei Ihrer Besorgnis vor der Nachkriegszeit Ausdruck, wo die Entscheidung über die moralische Qualifikation des Films »allein beim Publikum liegen« würde. Soweit ein solcher Zustand innerhalb geltenden Rechts überhaupt Raum hat, erstreckt er sich nur über solche Filmwerke, die die Genehmigung der polizeilichen Zensurstelle gefunden haben. Es ist unverkennbar, daß Ihr Wunsch nach weiteren Vollmächten der polizeilichen Beaufsichtigung geht - in der Richtung den Spielraum des Films gegenüber den geltenden Zensurbestimmungen zu verengen.

Es ist hier nicht der Ort, die mannigfachen bedenklichen Folgen auseinanderzusetzen, die [...] aus gesetzgeberischen Maßnahmen dieser Art mit Notwendigkeit fließen müssen. Aber um die durchgehende Erregtheit Ihres Artikels, sehr geehrter Herr Professor, der Öffentlichkeit verständlich zu machen, war es notwendig, diese zu den Quellen ihrer Einstellung hinzuführen.

So schätzbar ein Pädagoge ist, der dem entgegenstehenden Zeitgeist gegenüber seine Meinung streng vertritt, so scheint mir selbst in dieser achtungswürdigen Haltung eine gewisse Objektivität erforderlich, die ich in Ihren Ausführungen als in einer allgemeineren Erregung untergegangen empfinde. Es ist mir schwer begreiflich, wie eine öffentliche Persönlichkeit Ihres Ranges, deren Vertrautheit mit neueren pädagogischen Methoden und sozialpsychologischen Ergebnissen ich nicht anzuzweifeln wage, kurzerhand einen Satz von so unabmeßbarer Perspektive hinschreiben kann: »Die berufenen Sachverständigen der Erziehungsarbeit halten im Großen und Ganzen heute nicht mehr viel von der Wirkung der Aufklärung als Schutz gegenüber der Verführung und dem Laster«. Die nachfolgenden Einschränkungen beziehen sich nur auf Modalitäten, ohne den Kern Ihrer Behauptung zu berühren. Es sei mir erlaubt, darauf hinzuweisen, daß die gesamte soziale Prophylaxe auf geeignete Aufklärung und Demonstration aufgebaut ist. Die Dresdener Hygiene-Ausstellung, die Sie, sehr geehrter Herr Professor, kaum als gewissenlose Plusmacherei bezeichnen werden, war ein einziges Manifest der Aufklärungs-Prophylaxe. So anfechtbar der wissenschaftliche Unterbau vielleicht war - so allgemeinen Beifall der Sachverständigen fanden die Aufklärungs-Sektionen. Es ist auch ganz unerfindlich, mit welchen Mitteln gegen Krankheit und Gefahr Vorbeuge getroffen werden sollte - als durch Aufzeigen der schädlichen Folgen. Ob es sich um Heimarbeit handelt oder sexuelle Infektion - um Arbeit in hygienisch gefährdeten Betrieben oder um die Gefahren sozial und biologisch schädlicher Lebensführung: eine wirksame Warnung allein liegt in dem Begreiflich-Machen der schlimmen Folgen, in dem Hinweis auf den richtigen Weg. Ich wäre Ihnen, sehr geehrter Herr Professor, zu Dank verpflichtet, wenn sie mir eine pädagogische Autorität beibringen würden, die Ihren oben angemerkten Satz unterschreibt. Vielleicht befragen Sie Ihren ausgezeichneten Reichstagskollegen, Herrn Geheimrat Kerschensteiner, der übrigens zu meinem großen Bedauern Ihre Abneigung gegen den Film zu teilen scheint.

Wenn der Gesichtspunkt, daß die soziale Prophylaxe durch Aufklärung unwissenschaftlich und veraltet ist, von vornherein der leitende ist, so muß das Resultat, als sozusagen in die Voraussetzung hineingenommen, feststehen. Und es steht auch fest. Ich führte es oben bereits an. Der Ruf nach dem Generalkommando!

Dem entgegen erlaube ich mir, Ihnen die Versicherung zu geben, daß keineswegs alle herstellenden Gesellschaften unter dem Schutzmantel »Aufklärung« Pornographie in das deutsche Publikum zu lanzieren gedenken. Ich fühle mich durch eine intime Kenntnis aller in Betracht kommenden Instanzen hinlänglich legitimiert, Ihnen zu erklären, daß die deutsche Zensur keine lascive Szene passieren lassen wird und daß ihr mehr als ausreichende Mittel zur Verfügung stehen, Films für die sie innerhalb ihrer Kompetenz eine Gewähr nicht übernehmen kann, von der öffentlichen Vorführung auszuschließen. Eine Rückfrage bei Herrn Oberregierungsrat von Glasenapp dürfte kaum zu einem andern Resultat führen.

Die Fabrikanten aber lassen sich bei Herstellung solcher Films im allgemeinen von wissenschaftlichen Ratgebern leiten. Wir können es, sehr geehrter Herr Professor, zum Beispiel der »Gesellschaft für Geschlechtskrankheiten« und ihren bewiesenen Autoritäten ruhig überlassen, die Situationen herauszusuchen, die prophylaktisch von Wert und Wirkung sind: ihre sittliche Unschädlichkeit garantiert immer wieder die Zensur. Und ich müßte mich sehr irren, wenn von unbeteiligter Seite eine sittliche Beanstandung irgend eines Aufklärungsfilms bisher erhoben worden ist. Gewöhnlich ist es so, daß - bei der Bühne wie im Film - die moralische Entrüstung immer von Agitatoren oder von geistig verarmten Existenzen geliefert wird, die als der Durchschnitt des Publikums anzusprechen keinerlei Legitimation besteht. Und wenn wirklich Ausnahmen vorkommen, wenn ein hochgeschätzter Politiker und Pädagoge, wie Sie, diese Anschauungsweise zu der seinen macht: so bleibt mir als Erklärung immer nur die Annahme hochgesteigerter moralischer Bedenklichkeit, die die normale Höhe um einige Grade überschlägt. Ich kann auch nicht ernstlich glauben, daß es allein Sache der Polizei sein soll, die Moralität des Volkes in die richtigen Bahnen zu leiten. Von Ihnen politisch befreundeter Seite, sehr geehrter Herr Professor, sind gerade in dieser Richtung Anregungen ergangen, die nicht befolgt zu haben dem deutschen Volke als geschichtlicher Gewinn gebucht worden ist. Wenn eine Zensurbehörde besteht, so ist sie von vornherein mit den erforderlichen Machtfaktoren bekleidet, um volksschädliche Elemente im Filmwesen zurückzuhalten. Eine solche Einrichtung ist der deutschen Staatsauffassung immerhin verträglich. Zurückführend aber in historisch verblaßte Gefilde des Obrigkeitsstaates sind jene polizeilichen Einrichtungen, die die moralische Selbständigkeit des Staatsbürgers auf ein Minimum beschränkt.

Es scheint mir eine hinreichende Unterstützung entbehrende Anklage zu sein, wenn Sie generell vom »Unfug der Aufklärungsfilms« sprechen. Um so mehr, als Sie mir eine Tür zu schließen scheinen, die gerade für die Zukunft sehr erfreuliche Fernsichten ermöglicht. Wenn Ihnen der sexuelle Bezirk einer öffentlichen Behandlung nicht fähig erscheint - für mein Gefühl heißt das die Inaugurierung einer Politik der geheimen Mittelchen und der »weisen Frauen« - dann werden Sie vielleicht dem rein sozialen Aufklärungsfilm freundlicher gegenüberstehen. Aber Aufklärung treiben heißt gegen Mächte ankämpfen und ich habe das Gefühl, daß Sie, sehr geehrter Herr Professor, nicht immer geneigt sind, Mächte richtig einzuschätzen. Sie schreiben: »Für unsere Jugend muß doch wahr bleiben, daß das, was zur Geschlechtskrankheit führt, Schande und Sünde ist«. Die neuere Nervenpathologie behauptet, daß solche Erziehung Grund legt für spätere Hysterie, daß sie Gewissenskonflikte zwischen Seelennot und körperlichem Drang heraufbeschwört, deren Folgen das ganze spätere Leben beschatten. Meinen Sie nicht, sehr geehrter Herr Professor, daß es der bessere Weg ist, wenn der Jugend die moralischen und hygienischen Gefahren gezeigt werden, statt sie vor seelische Konflikte zu setzen, denen sie nicht gewachsen ist? Mir scheint, Vorbeugung ist immer noch besser als die Drohung mit religiöser und sozialer Ächtung, wenn man gegen eine Gewalt ankämpft, deren Macht wir alle, sehr geehrter Herr Professor, in unserem Leben erfahren haben. Oder es ist sehr arm und sehr lichtlos gewesen.
Es würde mir zu großer Freude gereichen, wenn Sie, sehr geehrter Herr Professor, in meinen Ausführungen Anregung finden würden, die dargestellten Gedankengänge noch einmal einer Prüfung zu unterziehen.

Ergebenst, Rudolf Kurtz,
Leiter der literarischen Abteilung der
Proj. A.-G. »Union«.


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