Als die Bilder singen lernten. Materialien zum 11. Internationalen Filmhistorischen Kongreß, Hamburg, 5. - 8. November 1998.

Filmmusikalisches Neuland

Der Tonfilm als Schrittmacher
Abkehr vom Schema

in: Film und Ton (Wochenbeiblatt der Licht-Bildbühne), 29.3.1930


Der Tonfilm hat schon heute, kurze Zeit nach seinem Einsetzen, die gesamte bisherige Kinomusik weggefegt. Es entsteht die Frage, ob und inwieweit es der Kinokapelle noch möglich ist, Filmbegleitmusik in jenem fortschrittlichen Sinne zu geben, den der Tonfilm ausgelöst hat.

Die Beantwortung dieser Frage mag zugleich ein Lehrkurs für die Kinokapellen sein!
An der Hauptfrage schon, nämlich an der Wahl der Untermalungsmusik scheitern alle guten Absichten, den Kinokapellen doch noch eine Berechtigung ihrer thematischen Mittel zuzuerkennen. Während der Tonfilm-Illustrator die Kinothekmusik ausschaltete und entweder komponierte oder womöglich unbekannte Musik verwendet, muß die Kinokapelle sich an das Herkömmliche, ihren Zwecken und ihrer Besetzung entsprechende Material halten. Nie wird die Kinokapelle, die doch in den allermeisten Fällen ein Salonorchester ist, die im Tonfilm verwendeten großen Orchester und Spezialkapellen aus dem Felde schlagen können. Die mechanische Wiedergabe einer Zigeunerkapelle, einer Schrammelmusik, eine landesüblichen Besetzung ist auf jeden Fall interessanter, als die Außerachtlassung der im Filmbild gegebenen instrumentalen Bedingungen durch die Kinokapelle.

Es hat sich herausgestellt, daß es weit mehr Möglichkeiten gibt, lustige Situationen, Gedanken oder Gebärden musikalisch aufzunehmen, als durch die Verwendung einer gestopften Trompete. Der Tonfilm hat uns darüber belehrt. Wenn die Kinokapelle auch nur diesen, vielleicht unbedeutenden Faktor übernehmen will, dann muß sie den gleichen Weg ein-schlagen, den der Tonfilmmusiker geht, sie muß Gedanken aufzeichnen und ausführen!

Es hat sich ferner herausgestellt, daß rhythmische Freiheiten ein vorzügliches Mittel sind, um Bildvorgänge einzuleiten, zu begleiten, in der Wirkung hervorzuheben und zu steigern. Die Scheu vor einer wahrheitsgemäßen Auffassung musikalischer Filmszenen durch die Kinokapelle war, wie man jetzt bei jedem Tonfilm konstatieren kann, nichts weiter, als eine Bequemlichkeit. Ein Ziehharmonikaspieler im Film, von der Orgel oder vom Harmonium rücksichtslos verfälscht, wird in Zukunft genau so zu den Unmöglichkeiten gehören müssen, wie alle die anderen Bequemlichkeiten Kinokapellen.

Wir stehen heute zweifellos am Ende einer filmmusikalischen Periode, in der der Grundsatz galt: »Kinomusik ist zu dem Zweck da, die Distanz vom Sehsinn zum Hörsinn zu überbrücken«. Die eigentlichen Elemente der Filmmusik hat uns in 25 Jahren keine Kinokapelle nahegebracht, aber in einem einzigen Jahre hat der Tonfilm gelehrt, daß die Musik nicht wegzudenken, ist, daß sie sehr wesentliche Bestandteile des Filmwerks zu geben hat. Und der Tonfilm gibt sie auch! Zahlreiche Beispiele könnten hier aufgezeigt werden, jeder neue Tonfilm bringt neue musikalische Details und neue musikalische Gesamtauffassungen. Aber nicht immer war es nur die Beschränkung, die dem Kinokapellmeister verwehrte, sich produktiv zu geben. Vielmehr hatte das Schema so sehr Macht über die Technik der Filmillustration gewonnen, daß das Prinzipielle, wie es jetzt täglich im Tonfilmtheater zu erkennen ist, vergessen wurde.

Die Musiziertechnik, die Illustrationsschablone, deren Gipfelpunkt beim Schlagzeug und in dem Jahrmarktshumor des Schlagzeugmusikers lag, hat ausgespielt.

Ein paar armselige Improvisationsmerkmale waren zu Formeln geworden, die geistige und die materielle Unbeweglichkeit der Kinokapellen wurde zum Gegebenen, zum Unabänderlichen.

Daß es auch anders geht, haben ein paar alltägliche Beispiele aus der Jugendzeit des Tonfilms bewiesen.


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